Brief an Magersucht und Depressionen

Es wird persönlich. Ich möchte mit dir über einen dunklen Teil meiner Geschichte sprechen. Über den Teil, den mein 14-Jähriges Ich gelebt hat. Über Magersucht und Depressionen, die mich jahrelang begleitet haben. Die Dinge, die mir beinahe das Leben gekostet hätten. Und beinahe den Mut genommen hätte, mich weiterzuentwickeln und zu kämpfen. Dieser Brief geht an mich selbst. An mein damaliges Ich – das kleine Mädchen, dass magersüchtig und depressiv war.

Achtung: Triggerwarnung! Solltest du aktuell in einer Essstörung stecken oder depressiv sein, könnte der nachfolgende Text für dich triggernd wirken. Ich werde meine positive Entwicklung hervorheben, doch ich werde nicht scheuen, ehrlich über damalige Gefühle, Gedanken und Zustände zu berichten. Ich werde keine Daten zu meinem Gewicht, meiner Kalorienmenge oder meinen Nahrungsgewohnheiten veröffentlichen, aber sollte dich das auf eine zu starke Art und Weise belasten, bitte ich dich, diese Zeilen nicht zu lesen.

Brief an mein 14-jähriges Ich – Magersucht & Depressionen

Hallo Paula,

Ich schreibe dir heute, weil ich wünschte, dass du das hier bereits mit 14 gewusst hättest. Ich wünschte, du hättest damals schon verstanden, wo deine Reise hingehen wird. Ich weiß, dass diese unheimlich dunkle Zeit, die du gerade erlebst, furchtbar ist. Aber ich weiß genauso, dass sie Teil deiner Entwicklung sein wird. Dass diese Zeit dich nachhaltig prägen wird und dass es die einzige Chance deines Unterbewusstsein war, dich wachzurütteln. Hättest du nicht angefangen zu hungern und tagelang weinend das Haus nicht zu verlassen, wärst du nicht dorthin gekommen, wo ich heute bin. Gerade versucht dein Unterbewusstsein zwar dich umzubringen. Aber sarkastischerweise ausgerechnet, um dein Leben zu retten.

Ich wünschte, ich könnte dir sagen, dass alles gut wird. Und das auch noch glaubhaft verkaufen. Denn: es wird tatsächlich alles gut. Die ganze Arbeit, dieser verdammt harte und beschissene Kampf, den du gerade erst beginnst, der ist alles wert. Jede einzelne Träne, die du vergießt, weil du nicht essen kannst und weil du ein schlechtes Gewissen hast, die hat ihre Berechtigung. Und sie bringt dich tatsächlich weiter. Egal, wie schmerzhaft es ist. Egal, wie schlecht du dich damit fühlst. Ich wünsche dir einfach nur, dass du dranbleibst. Ich möchte, dass du nicht aufgibst. Es wird noch ein paar Jahre dauern, bis du das erste Mal so etwas wie „Glück“ verspürst. Und ich sage dir, es wird erstmal noch eine ganze Weile ziemlich unangenehm sein, aber wenn du irgendwann an diesem Punkt angelangt bist, an dem ich heute bin, wirst du stolz sein wie Bolle.

Ich kann mich noch ganz genau erinnern, wie es mir an deinem aktuellen Punkt ging. Ich weiß, dass ich nicht verstehen wollte, dass ich wirklich schwer krank bin. Psychisch wie körperlich. Ich wollte nicht einsehen, dass mein Körper schwach und am Ende ist. Und doch hatte ich an manchen Tagen Angst einzuschlafen. Du hast so große Angst vor dem Essen, dabei ist es die einzige Möglichkeit, dich vor dem Verhungern zu schützen. Bald wird der erste Schritt kommen, das weiß ich. Es ist traurig, dass du dafür erst so tief abstürzen musstest. Aber es ist umso stärker, dass dieser Schlüsselmoment, dieser Tag, an dem Papa dir sagt, dass es so nicht mehr weitergeht und er dich ins Krankenhaus fahren müsste, dich dazu gebracht hat, dein Leben in die Hand zu nehmen. Es dauert dann zwar immer noch eine ganze Weile, bis es leichter wird. Aber dieser erste Schritt, der wird dich dein Leben lang begleiten.

Magersucht & Depressionen - Ein Brief an mein 14-jähriges Ich zur Verarbeitung, Motivation und offenen Darstellung meiner damaligen Gefühle und warum es sich lohnt zu leben.

Du wirst weinen. Du wirst schreien. Du wirst dein gesamtes Umfeld terrorisieren und an seine Grenzen bringen. Du wirst mit mehreren Psychotherapeuten kämpfen, weil sie an dein Innerstes wollen oder im krassen Gegenteil nur mit dir über das Essen sprechen. Beides wird dir nicht passen. Es ist okey, aber es stellt dir noch mehr Steine in den Weg. Denn wirklich: Die ganzen Menschen da um dich herum, die möchten dir helfen. Niemand von denen will dich an der Magersucht oder der Depression verlieren. Keiner möchte dir etwas Böses, auch wenn sich das vielleicht manchmal so anfühlt. Von meinem heutigen Standpunkt aus ist es so surreal, dass du Angst davor hast, 50 Kalorien mehr durch Fett zu dir zu nehmen. Ich weiß, dass diese Angst sich für dich komplett wahr anfühlt. Aber sie ist nicht wahr. Deshalb möchte ich, dass du stark bleibst und dass du sie überwindest. Egal wie sehr diese Angst dich einnimmt. Die Angst vor dem Essen, vor dem Zunehmen, vor 13 Kalorien zu viel, vor zu wenig Bewegung am Tag. Sie sagt nicht die Wahrheit. Glaube mir. ES. STIMMT. NICHT.

Du wirst nicht fett und ungeliebt, wenn du es zulässt. Du wirst lebendig, stark und schön. Nicht sofort. Ich könnte dich nicht so belügen, dass ich behaupten würde, du würdest sofort zu einem wunderschönen Schwan, wenn du jetzt anfängst zu essen. Das ist nämlich leider nicht wahr. Aber ohne wieder zu essen wirst du es auch nicht. Das ist der Punkt. Du hast nämlich nichts zu verlieren. Weil da nichts mehr zu verlieren ist. Es klingt unglaublich traurig. Aber es stimmt – du kannst bald nicht mehr sehr viel mehr verlieren als dein Leben. Denn deine Eltern, die werden dich nie nie niemals im Stich lassen, auch wenn du sie noch so sehr terrorisierst.

Was du gerade tust, das ist dir komplett deine Jugend zu rauben. Das ist okey. Denn du musst absolut nicht wie andere in deinem Alter anfangen zu trinken und zu feiern und zu rauchen, weil es cool ist. Das bringt dich vermutlich genau so wenig weiter wie das Hungern und Weinen. Und ähnlich ungesund ist es auch. Aber ich wünschte, du könntest zumindest in dieser sowieso schon harten Zeit deines Lebens ein bisschen mehr genießen und ein bisschen mehr Liebe spüren.

Es wird Zeit dauern. Von dem Zeitpunkt, an dem du beginnst, wirst du sicherlich mindestens noch 2-3 Jahre mit dem Stimmchen in deinem Hinterkopf kämpfen. Das Stimmchen, das dir ein schlechtes Gewissen einredet, wenn du isst, wenn du ein kleines bisschen Kontrolle ablässt. Wenn du dich ein kleines bisschen zu wenig bewegst. Aber wichtig ist, dass du dranbleibst. Ich wünschte, ich könnte diesen Prozess beschleunigen. Und vielleicht könnte ich dir auch aus der heutigen Sicht Tipps und Ratschläge geben, die dich davor bewahren, so hart kämpfen zu müssen. Aber ich befürchte, dass du auch diese Erfahrungen selbst machen musst. Weil sie dazugehören für deinen Weg.

Aber es gibt ein paar Dinge, die dir vielleicht Mut machen. In etwa einem Jahr wirst du die ersten zehn Kilogramm Gewichtszunahme geschafft haben. Sie werden sich gar nicht so schlimm anfühlen, wie du es dir gerade vorstellst. Denn auch deine Selbstwahrnehmung wird dann besser. Sie wird immer noch verzerrt sein. Aber zumindest etwas besser. Ich glaube, in einem Jahr wirst du dir das erste Mal einreden, dass du es geschafft hast. Du wirst das wirklich denken. Zwar hast du zu dem Zeitpunkt gerade erst einen klitzekleinen Teil deines Weges geschafft haben, dennoch wirst du fest davon überzeugt sein, dass du nun einfach der glücklichste und strahlendste Mensch der Welt sein wirst.

So leicht ist es leider nicht. Auch wenn ich dir diese Hochphase aus tiefstem Herzen gönne. Denn du wirst nicht ewig bei diesem Kompromiss stehen bleiben können. Dein Körper wird mehr fordern und du wirst ihm mehr geben. Und dann fängt die eigentliche Arbeit erst an. Denn bis dahin sprichst du nicht. Du führst zwar dein Tagebuch und analysierst alles. Aber du fühlst nicht wirklich. Du lässt das alles noch gar nicht wirklich zu, sondern versteckst dich immer noch hinter der Magersucht. Zwar bist du vielleicht äußerlich nicht mehr dürr wie tot, sondern einfach nur noch dürr, aber immer noch weit entfernt von gesund. Du definierst dich noch eine ganze Weile ausschließlich über dein Äußeres und vergisst, dass da noch so viel mehr in dir steckt. Du stellst Erwartungen an dich, die du einfach nicht erfüllen kannst. Denn anstatt perfekt dünn zu sein, wirst du als nächstes versuchen, perfekt glücklich zu sein.

Ich glaube sogar, die Zeit wird sich für den Moment ziemlich gut für dich anfühlen. Du wirst selbstbewusst. Und hey – du bist schon auch eine ziemliche Marke. Wohl auch irgendwie ein Freak, aber es hat was. So ein junges Mädel, das sich ganz weit links und ganz weit im Tierschutz befindet und irgendwo zwischen Punk und Hippie kleidet. Du wirst das leben. Das wird eine Weile für dich richtiger Lebensinhalt sein. Und irgendwann… dann wirst du dich das erste Mal verlieben. Die erste Beziehung wird in die Brüche gehen, weil du deinen Körper doch noch wahnsinnig verabscheust und nichts zulassen kannst.

Und wenn du dich das zweite Mal verliebst, wirst du plötzlich merken, dass es vielleicht doch nicht ganz so einfach war. Dass das Kapitel „Magersucht und Depressionen“ noch lange nicht abgeschlossen ist. Denn in diesem Alltag, in dem du alleine wohnst und plötzlich zu 100% die Verantwortung für dich trägst, da kommt alles zurück. Da meldet sich die Wahrheit in dir. Die dich daran erinnert, dass es nicht so einfach funktioniert. Dass du nicht mal eben 10 Kilogramm zunehmen und ansonsten die Kontrolle beibehalten kannst. Weil du ja „von Natur aus schon immer dünn warst“ und dich einfach „unheimlich gerne bewegst“. Das stimmt beides – aber eben nur in Maßen. Du warst schon immer dünn und du hast dich schon immer gerne bewegt. Aber inzwischen bist du fast 16 und dein Körper wird unweigerlich auch bald die eine oder andere Kurve bekommen wollen. Und zwanghaftes Stehen kannst du nicht als „unheimlich gerne Bewegen“ bezeichnen. Aber okey. Das spürst du bald.

Ich weiß, dass dann nochmal ein paar wirklich anstrengender und beschissener Jahre kommen werden. Vielleicht hättest du diese Jahre verkürzen können, wenn du dich früher getraut hättest, auch medikamentös etwas gegen die Depressionen zu tun. Und nicht ausgerechnet mit 16 zu beginnen, die Pille zu nehmen, die noch mehr Chaos in dir auslöst. Also lass das am besten einfach. Lass das Kapitel Pille einfach weg. Starte dein eigenes Leben in deiner eigenen Wohnung und suche dir von vornherein Unterstützung. Du musst das noch nicht alleine können mit 16. Das erwartet niemand von dir – außer dir selbst.

Ich weiß gar nicht, ob das unbedingt ein Fehler ist, wenn du mit 16 ausziehen möchtest. Schließlich bringt dich das im Endeffekt auch wieder sehr viel weiter. Und langfristig gibt dir das eine Selbstständigkeit, die sich später noch bezahlt macht. Aber vielleicht tust du dir einen Gefallen, wenn du nicht von vornherein so maßlos hohe Ansprüche an dich hast und dich ganz einfach unterstützen lässt.

Nach deinem Auszug wird sowieso eine ziemlich wilde Phase beginnen. Ich befürchte, dass ich dir das nicht ausreden kann. Denn irgendwo muss wohl jede Jugendliche auch seine Erfahrungen machen. Auch mit Alkohol und Feiern. Aber das passt nicht zu dir. Weil dich das wieder so depressiv macht. Und du außerdem noch mehr ungewolltes Gewicht zunehmen wirst.

Das ist im Prinzip nicht schlimm. Denn dieses Gewicht schadet deinem Körper nicht. Deinem Körper, der immer noch unter den Nachwirkungen des Hungers leiden wird. Und den du dann phasenweise mit den nächsten Crashdiäten malträtieren wirst, weil dein Kopf es nicht erträgt. Mein Rat lautet: Lass diesen ganzen Blödsinn einfach weg. Geh direkt zu der Therapeutin, bei der du so unheimlich viel über dich gelernt hast.

Bitte versteh: Es geht nicht nur um deinen Körper und dein Äußeres. Du kannst deine Magersucht nicht heilen, indem du dich weiterhin auf deinen Körper fixierst. So lange deine Optik so sehr das Zentrum bleibt, kannst dein Geist nicht heilen.

Ja, es braucht Zeit. Das weiß ich noch besser als du. Als ich meinen Schlüsselmoment hatte, den du nun bald erleben wirst, da wusste ich schon, dass es Zeit brauchen würde. Ich war mir auch sicher, dass es unheimlich viel Zeit brauchen würde. Aber dass ich tatsächlich von da an jeden verdammten Tag an mir arbeiten würde, das hätte ich damals nicht gedacht. Ich hatte es mir einfacher vorgestellt. Zwar wusste ich, dass diese Ängste rund ums Essen so so riesig waren und ich sie nicht leicht überwinden konnte. Aber dass ich so konsequent und so verdammt viel an meinem tiefsten Inneren arbeiten würde, dass hätte ich nicht erwartet. Und kurzzeitig dachte ich ja auch, dass es vielleicht anders geht. Indem ich mich eben an irgendetwas anderes Äußerliches klammere.

Aber weißt du was ich noch sagen möchte, bevor ich diesen Brief an dich abschließe?

Es hat sich gelohnt.

Jede einzelne verdammte Träne. Jede Überwindung. Jedes Mal, wenn ich einen winzigen Schritt vorankam und direkt danach gefühlet zehn Schritte zurück. Es hat sich gelohnt. Ich hätte mir gewünscht, weniger Umwege zu nehmen. Und ich hoffe, dass ich dich motivieren kann, weniger Umwege zu nehmen. Dein Ziel nicht aus den Augen zu verlieren: Das Ziel, mit dir ins Reine zu kommen und so ein verdammt geiles Leben zu führen, dass du nicht mehr aufhören willst zu leben. Denn genau das ist, was mich im Endeffekt motiviert hat. Und das ist es, was mich die letzten Jahre angetrieben hat. Ich weiß, das klingt im Moment für dich noch unvorstellbar. Weil da zu wenig Körper, zu wenig Optik im Vordergrund steht. Aber bitte, vertrau mir. Das ist mein Weg. Hab Vertrauen in dich. Hab Liebe für dich. Denn egal wie dunkel sich das gerade anfühlt. Wie furchtbar deine Tage sich derzeit gestalten. Wie viel Angst du hast. Du kannst nur gewinnen. 

Es wird dauern, bis du dieses Ziel entdeckst und diese Leidenschaft so richtig in dir entfachst. Bis dahin wird dich der Gedanke über Wasser halten, dass du es zumindest versucht haben willst, bevor du dein Leben aufgibst. Denn das bedeutet es im Endeffekt, wenn du weiterhungerst. Dass du dein Leben aufgibst. Weil es früher oder später zu Ende sein wird.

Und aus dem Gedanken: „Ich will es versucht haben, bevor ich aufgebe“, wird irgendwann der Wunsch nach etwas Großem. Und aus dem Wunsch dein Ziel.

Gib‘ dich nicht auf. Hab Mut. Ich glaube an dich. Und ich verspreche dir: Das hier, was du eines Tages erreichen wirst. Das ist es wert.

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Author: Paula Thomsen

Paula Thomsen ist die Gründerin von Laufvernarrt. Mit ihrer gebündelten Expertise als staatlich anerkannte Physiotherapeutin, Ernährungsberaterin und Personal Trainerin widmet sie sich ganzheitlich und fundiert den Themen rund um Fitness, Ernährung, Training und mentale Gesundheit.

8 thoughts on “Brief an Magersucht und Depressionen

    1. Danke Roland für dein Feedback! Das bedeutet mir viel. Und ja, ich wünschte, es würde Menschen davor bewahren, aber ich bin schon froh, wenn es Leuten Mut gibt und sie motiviert, ihr Leben wieder zurück in die Hand zu nehmen. Liebe Grüße und bis bald!

  1. Liebe Paula,
    ich bin heute durch Zufall auf diesen Brief gestoßen, den du schon vor langer Zeit geschrieben hast. Er hat mich sehr berührt, weil er auch von mir hätte sein können. Ich danke dir sehr fürs teilen!
    Ganz liebe Grüße, viel Freude und Leichtigkeit wünscht dir
    Judith

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